Beethoven Studien im Generalbass, Contrapunkt und der Composition – Neue Ausgabe von Louis Köhler
Zweiter Abschnitt. Theorie der Composition: Viertes Capitel – Beispiel – Sammlung
Bei dem ersten NB. ist durch die Fortschreitung der Terz in die Octave eine Cadenz inderBaupt- tonart gemacht worden, welche inmitten verboten ist und erst am gänzlichen Schlüsse Platz findet. Beim zweiten NB. sind heimliche Quinten in gerader Bewegung, und beim dritten abermals ein regelwidriger Schlussfall in die Tonica. Auch hüte man sich wohl vor zwei auf einander folgenden grossen Terzen, wie z- B. > weil solche einen unharmonischen Querstand bilden, welcher mi contra fa oder fa contra mi genannt wird, indem das erste Paar zu den Kreuz- oder mi – Tonarten, das letzte zu den fa-, nämlich B- Scalen gehört, worauf sich auch das alte lateinische Sprüchlein bezieht: Mi contra fa, est diabolus in musica.— Allerdings mag solches, gleich der übermässigen Quarte, dem Tritonus, und der grossen Sexte,schwer zu singen, und deswegen gleich dem leeren Einklänge in der Mitte unerlaubt sein, so wie im zweistimmigen Satze eine gewisse Härte keineswegs sich abläugnen lässt; indessen, mit voller Harmonie nimmt sich die Rückung von E nach F, trotz dem verpönten nd contra fa, sollte ich meinen, doch so übel nicht aus:
Mehrere Terzen nacheinander sind ebenfalls nicht gut, weil sie gemein und liedermässig klingen; desgleichen eine Reihe von Sexten, so wie alle verminderten, übermässigen Septimen- und jene über die Octave hinausreichenden Sprünge.
Der siebente grosse Ton, der sogenannte Leitton, nota sensibilis, darf niemals verdoppelt werden; theils, weil er ohnehin scharf iife Gehör fällt, theils, weil er schon seiner Natur gemäss aufwärts steigen muss, folglich beide Stimmen in gerader Bewegung reine Octaven – Gänge machen würden. Dieses Intervall kann auch in mancherlei Gestaltung erscheinen und immer in eine andere Tonleiter führen:
Zweite Gattung des zweistimmigen, einfachen Contrapunktes
Der Nonensprung in drei Noten beim NB. ist schwer zu treffen, daher zu vermeiden.
Hier ist es besser, wenn in der Mitte die unvollkommenen Consonanzen: Terzen, Sexten und Decimen, das schwere Takttheil einuehmen, hingegen auf die zweite Note die vollkommenen,nämlich Quinten und Octaven,angebracht werden.
Man glaubt bei dem folgenden NB. die beiden reinen Octaven durch den Quintensprung, welcher einen grösseren Raum einnimmt und somit dem Gehör weniger empfindlich sein soll, verbessert.
Der Einklang beim zweiten NB. ist gut, weil er auf das schlechte Takttheil fällt nur in Thesis bleibt er verboten, woselbst er zu leer klingt und einen Schlussfall bildet. — Die letzte Cadenz, ist der phrygischen Tonart gemäss, nämlich: C, D statt Dis, weil der Grundton F heisst.
Beim NB wird die erste Stimme von der zweiten überstiegen; weil man aber immer vom Basse aus zählt, so musste mit einer Sexte beziffert werden, wiewohl es gleich einer Terz klingt. Im vorletzten Takte wurde die Terz durch die Sexte vorbereitet, eine nothweudig bedingte Liceuz, denn mit der gesetzmässigen Quinte entstände ein unharmonisches mi contra fa. In den Tripel- Taktarten kann die mittlere Note, wenn sich alle drei stufenweise bewegen, eine Dissonanz sein, ausser bei einem Sprunge,wo man sich unabänderlich nach der Regel richten muss:
(Der Tropfen Wasser durchlöchert endlich einen Stein, nicht mit Gewalt, sondern, indem er oft darauf fällt: nur durch unermüdeten Fleiss werden Wissenschaften errungen, so dass man in Wahrheit sagen kann: „Keinen Tag ohne Linie!” „Nulla dies sine linea”—Verloren ist jeder, au dem wir nicht etwas Nützliches erlernt haben. Der Mensch besitzt nichts Edleres und Kostbareres, als die Zeit; darum verschiebe nie auf morgen, was du heute zu thun vermagst.) Iu der strengen Schreibart, wohin alle Kirchenstücke gehören, welche eigentlich blos für Siugstimmen gesetzt sind, uud aus dem Grunde nur perfecte und imperfecte Accorde enthalten dürfen, weil die Intervalle derselben leichter zu treffen sind, als alle vermiuderten und übermässigen,— in diesem Style ist es auch verboten, zwei Noten von einerlei Buchstaben anzubringen, z.B. cc,—ee,— gg,— u.s.w.— Jedoch finden auch hier zwei Ausnahmen Statt. Die erste: bei der sogenannten „ligatura rupta” oder: gebrochenen Bindung:
Die zweite: in Gesangstellen, woselbst rücksichtlich der aus mehreren Sylben zusammenge
In der freien Schreibart, woselbst man auch Dissonanzen in Thesi setzen darf,werden zwei Noten gegen eine auf doppelte Weise behandelt. Ein Mal kann die erste Note eine Consonanz und die zweite eine Dissonanz sein; solches heisst bekanntermassen: der reguläre Durchgang. Zum ändern kauu gegenseitig die erste eine Dissonanz, die zweite aber eine Consonanz sein, uud diese Eigenschaft macht, wie wir gehört haben, den irregulären Durchgang aus. Doch sind diese Art Dissonanzen von jenen, die zufällige oder wesentliche heisseu, abermals unterschieden. Die wesentlichen müssen von der vorher gegangenen Harmonie präparirt (vorbereitet) uud bei der nächstfolgenden aufgelöst werden; auch kann sowohl der wesentlich dissonirende, als der aufgelöste Accord eine oder mehrere Taktzeiten einnehmen; eben so kann die Harmonie , womit der dissonirende Accord präparirt wurde, in der Anzahl der Taktzeiteu entweder gleich, oder ungleich sein, d.h. die gedachte Harmonie kann allerdings mehr, aber nie weniger Taktzeiten haben, als jene, welche deu dissonirenden Accord präparirte. Derselben Vorbereitung unterliegen uch die zufälligen Dissonanzen, nur in der Resolution (Auflösung) weichen sie von einander ab indem die wesentlichen sich erst bei den folgenden, die zufälligen aber bei der nämlichen Harmonie auf lösen. Es gibt also dreierlei Arten von Dissonanzen: l) Jene des regel- unregelmässigen Durchgangs; 2) Wesentliche; und 3) Zufällige. Somit entstehen consoniende und dissonirende Accorde mit einer oder mehreren Dissonanzen.
Dritte Kattung des zweistimmigen, einfachen Contrapunktes.
Hier beim NB. ist der Sexte major Sprung besser in den zwei ersten Noten, als in den übrigen. Wohl hüte man sich auch vor Eintönigkeit (Monotonia), nämlich einer Wiederholung derselben Noten in zwei auf einander folgenden Takten, welchen Uebelstand selbst eine veränderte Grnndstimme nicht beseitigt:
Der Sexte major Sprung herab ist selten gut.— Nach drei oder vier steigenden oder fallenden Noten soll die nächste stufenweise gehen und nie gesprungen werden. Auch die Quarte wenn sie im Aufstreich als dritte Note erscheint, muss sich herab oder hinauf stufenweise bewegen, nicht aber zwischen zwei gleichnamigen Consonanzen eingesperrt werden, weil es sonst einem Quartsext- Accord gleicht. Dieser wird nur alsdann geduldet, wenn der Contrapunkt alle Intervalle einer perfecten oder imperfekten Harmonie regelmässig durchspringt und die dissonirende Quarte jederzeit auf einen schlechten Takttheil, das heisst: auf den zweiten oder vierten fällt;
Das bei dem NB die Quarte nach der Sexte springt, ist eine gute Licenz, weil alle vier Noten im Accorde liegen und daher leicht zu singen sind.
Hier wird in der Cadenz von der Sept in die Quinte gesprungen dies ist die bekannte Fux sche Wechselnote, von ihrem Erfinder, dem k. k. Obercapellmeister Johann Fux also zugenannt, welcher das erste theoretische Lehrsystem über die Tonkunst, unter dem Titel: Gradus ad Parnassum verfasste, jenes berühmte Werk, das sein erhabener Mäcen Kaiser Carl VI. zum Drucke beförderte.
Vierte Gattung des zweistimmigen, einfachen Gontrapunktes.
Da hier in Test jederzeit eine Ligatur sein muss, welche auch dissoniren darf, so ist hinsichtlich der Auflösung der Dissonanzen (de dissonantiai’inn resolutione) zu bemerken: dass eine gebundene Note nichts anderes sei, als eine Verzögerung der folgenden, welche alsdann, gleichsam erlöst aus den Banden der Knechtschaft, sich wieder in Freiheit befindet deswegen sind alle Dissonanzen immer in die nächste Consonanz, die sich stufenweise herunter bewegt, aufzulösen.— Um nun schon im ersten Takte eine Ligatur anbringen zu können, ist es nothwendig, den Contrapunkt mit einer Tause, welche die Hälfte des ganzen Taktes gilt, zu beginnen.
Hier beim NB. ist eine Licenz die Quarte springt nämlich in die Sexte, um in Arsi eine Fortschreitung in Quinten zu vermeiden. Durch eine im Niederstreiche frei eintretende Note wäre ebenfalls dem Uebel abzuhelfen gewesen.
Fünfte Gattung des zweistimmigen, einfachen Contrapunktes.
In den damaligen Zeiten der Steifheit waren die hei dieser Gattung erlaubten Zierathen schon beinahe gleichnamig mit dem, was man heutigen Tages figurirten Gesang und Coloraturen nennt.- Teinpora mutantur. Wie wird man wohl nach einem Säculum über die gepriesenen Werke unserer Lieblings-Componisten urtheilen? Indem fast Alles dem Wechsel der Zeiten lind,leider! auch dem Modegeschmacke unterliegt,, steht nur das wahrhaft Gute und einzig Wahre felsenfest, und keine Frevlerhand wird jemals d.aran sich zu vergreifen wagen. So thue denn Jeder, was recht ist; strebe hinan mit aller Kraft zum niemals erreichbaren Ziele} bilde aus bis zum letzten Athemzu- £e die Gabe,welche des Schöpfers Milde ihm verliehen, und höre nimmer auf zu lernen; denn: „kurz ist das Lehen, ewig die Kunst!” Hier hat die erste Gattung bis zum letzten Takte einen Platz. Die zweite und dritte soll auch nie über ein Paar Takte währen. Zwei Achtelnoten dürfen nur auf schlechte Takttheile fallen,und eine halbe Note ist Anfangs besser placirt, als in der Mitten in diesem Falle muss sie schon mit dem folgenden Takte gebunden werden:
Auch die falsche Quinte ist verboten. Ich möchte eine Ausnahme machen, wenn sie tonarts- mässig ist; z. B. in F dur: in welcher Gestalt sie wenigstens für mich wohlklingender ist, als die reine:
Ueberhaupt scheinen so manche Zwangsregeln mehr nach Schul-Pedanterie zu schmecken, als sie es wirklich sind. In jener Epoche war die ausübende Tonkunst gleichsam noch in den Grenzen der Kindheit; alles beruhte auf den Vocalisten, die damals gänzlich des unterstützenden Orchesters entbehrten, und der Componist konnte seine Kenntnisse nur durch einen kunstreich verwebten harmonischen Bau beurkunden, da er, bei der Heiligkeit des Gegenstandes, für welchen er arbeitete, freiwillig auf jede Wirkung der Melodie verzichten musste. Ausserdem waren seine Werke zunächst für die Aufführungen in Italiens riesenmässigen Tempelhallen bestimmt, woselbst eine so rasch wechselnde Modulation, wie sie jetzt gewöhnlich, die Einheit des Ganzen bis zur Undeutlichkeit entstellt haben würde. Somit war es denn BBr das Resultat der reiflichsten, wohlberechnetsten Ueberlegung, wenn die alten Meister in ihren einfachen Choral – Melodien sich auch nur auf die einfachsten Accorde, auf die reinsten Harmonien beschränkten, diese langsam, feierlich, in breiten Massen also entwickeln und austönen Hessen, dass niemals eine in die andere verfliessen konnte, dabei alle Intervalle und Rückun- ßen beseitigten, die nicht leicht und natürlich waren, damit der Sänger seiner Intonation immerdar vollkommen gewiss und sicher sein mochte. Wenn man nun, wie billig, diese ‘Verfahrensweise ganz zeitgemäss, nothwendig und den Erfordernissen höchst entsprechend nennen nuss, so darf man es auch andererseits den Nachkömmlingen nicht verargen, wenn sie, ohne die Grund-Principien aus den Augen zu verlieren, um einige Schritte weiter gehen, im weniger Weltlichen einen neuen Weg sich bahnen, dem Erfindungsvermögen, der Phantasie, ihre Urrechte gestehen, und von jenen Mitteln Gebrauch machen, welche ihnen die grössere technische Ausbildung der Kunst in so überreicher Fülle darbietet. Die Natur kennt keinen Stillstand; Hand in Wand mit ihr wandelt auch die wahre Kunst; deren After-Schwester heisst: Künstelei, vor welcher uns der Himmel bewahren möge!