Gustav Nottebohm – Beethoveniana – XIV – Die Ouverture Op. 115. (Seite 37)
Aufsätze und Mittheilungen von Gustav Nottebohm
Leipzig, Verlag von C. F. Peters 1872
In diesem Entwurf finden wir die zwei Themata, welche uns als die Themata der Haupt- und Mittelpartie der Ouverture Op. 115 bekannt sind. Es ist also kein Zweifel, dass Beethoven jene Themata, die Grundbestandtheile der Ouvertüre Op. 115, mit dem Text des Schiller’schen Gedichtes zu einem Ganzen verweben wollte, und dass das Ganze die Form einer Ouverture erhalten sollte. Aus einigen innerhalb des Entwurfs stehenden Bemerkungen geht hervor, dass Beethoven nicht das ganze Gedicht in Musik setzen wollte. Es ist aber nun einerseits nicht einzusehen, wie Beethoven diejenigen Strophen, in denen der Dichter den Ton des Erhabenen anschlägt (z. B. »Ihr stürzt nieder, Millionen? Ahndest du den Schöpfer, Welt?«), mit den anderen, welche einen rein dithyrambischen Zug haben, einheitlich verbinden und in den Rahmen einer Ouverture bringen wollte: andererseits ist nicht einzusehen, wie er, ohne dem Gedicht zu schaden, jene, dem engen Rahmen der Ouverture widerstrebenden, gewichtigeren Strophen hätte weglassen können. Dann ist nicht klar, wie bei dem überwiegend instrumentalen Charakter der beiden Themata das vocale Element und damit der Text zur Geltung gebracht werden sollte. Ob nun Beethoven solche oder ähnliche Bedenken hatte, wissen wir nicht. Genug, das Stück wurde nicht so ausgeführt, wie es entworfen war. Der Entwurf löste sich gleichsam in zwei Theile auf. Der Text fand ungefähr zehn Jahre später im Finale der neunten Symphonie die cyklische Form, welche auf einfachen, breiten Grundlagen eine ausgedehnte Anwendung der Variationen-Form und des doppelten Contrapunktes gestattete und dadurch eine Herbeiführung der durch den Text bedingten Gegensätzlichkeit und Mannigfaltigkeit ermöglichte. Die dem instrumentalen Theil eingeborene »Freude« zur Entfaltung zu bringen, bedurfte es, so scheint es, einer äusseren Anregung. Diese Anregung scheint der (am 1. September 1814 eröffnete) Wiener Congress gebracht zu haben. Beethoven nahm die liegengebliebene Arbeit in anderer Form auf im September 1814. In einem Skizzenbuch aus dieser Zeit erscheint das Hauptthema des Allegro-Satzes der Ouverture anfänglich, wie in der Skizze vom Jahr 1812, im 3/4 -Takt, nämlich so:
Später hat Beethoven den 6/8 -Takt angenommen. Unmittelbar vor der Ouverture hatte er zur Feier der Anwesenheit der beim Congress versammelten Monarchen einen ungedruckten Chor: »Ihr weisen Gründer glücklicher Staaten« etc. geschrieben. Unmittelbar nach der Ouverture entstand die Congress-Cantate: »Der glorreiche Augenblick«. Das sind zwei Gelegenheits-Compositionen. Die Ouverture Op. 115 aber, mögen auch die Festlichkeiten des Congresses, das herannahende Namensfest des österreichischen Kaisers, die Aussicht auf eine Aufführung u. a. m. das Werk gezeitigt oder die Arbeit beschleunigt haben, ist darum doch keine Gelegenheits-Composition. Sie wurzelt in ihrem thematischen Bestand in einem anderen Boden. Sie ist die Ausführung eines Entwurfs aus früherer Zeit, und dieser Entwurf hätte eben so gut früher oder später und bei einer anderen Gelegenheit zur Ausführung kommen können. Die Ouverture Op. 115 kann ihrem Ursprung und ihrer Conception nach auf den Beinamen »zur Namensfeier« keinen Anspruch machen. Sie ist der Ausfluss einer Vorarbeit zum Finale der neunten Symphonie. In sich selbst zerfällt nun auch eine Wiener Tradition, nach welcher Beethoven in dem oft wiederkehrenden Motiv mit Beziehung auf den Namenstag des Kaisers das Wort »VIVA!« habe ausdrücken wollen.
*) In der Anzeige der »Akademie« heisst es u. a.: »Die dabei vorkommenden Musikstücke sind sämmtlich von der Composition des Herrn Ludwig van Beethoven und bestehen 1) aus einer neuen Ouverture, 2) aus einem neuen Chor über Goethe’s Gedicht: die Meeresstille, und 3) aus dem grossen Oratorium: Christus am Oelberge«. Die Wiener Zeitung vom 6 Januar 1816 berichtet u. a. über die Aufführung »Wranizky dirigirte, Umlauf hatte den Platz am Klavier«. (Warum hatte Umlauf den Platz am Clavier?) Schindler erzählt (I. 248), dass Op. 112 und Op. 115 (nebst Christus am Oelberg) am 25. December 1815 »unter Leitung des Meisters zum ersten Mal aufgeführt wurden«. Ueber die Aufführung berichtet auch die Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung vom Jahre 1816, S. 1816, S. 78
**) Die Wiener Allgemeine Musikalische Zeitung vom Jahre 1818 berichtet (S. 150) über das Concert vom 16 April: »Zum Anfang hörten wir eine neue Ouverture von Herrn L. van Beethoven, welche nur ein mal bisher öffentlich gegeben wurde«. Später (S. 17)» wird über beide Concerte u. a. berichtet: »Die sehr schöne geistvolle neue Ouverture des Herrn L. v. Beethoven……entzückte die Kenner«.
***) Jedenfalls eine Verwechslung des Datums.
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