Gustav Nottebohm – Beethoveniana – VI – Die ausgeschossenen zwei Takte im dritten Satz der C-moll-Symphonie. (Seite 17)

Aufsätze und Mittheilungen von Gustav Nottebohm
Leipzig, Verlag von C. F. Peters 1872

Es ist bekannt, dass die zwei überschüssigen Takte, welche in der alten Leipziger Ausgabe der fünften Symphonie (Partitur S. 108) in folgender Stelle

vorkommen und welche wir hier mit NB. bezeichnet haben, dadurch hineingekommen waren, dass in der zum Stich gegebenen Abschrift nach jenen zwei Takten ursprünglich ein Wiederholungsszeichen gestanden hatte, welches aber später beseitigt worden, und dass die zwei Takte, als zur erst beabsichtigten Wiederholung gehörend und mit der Ziffer I (prima volta) bezeichnet, aus Versehen stehen geblieben waren.

Dass nun wirklich das später beseitigte Wiederholungszeichen früher gültig war, und dass bei der ersten Aufführung der Symphonie (am 22. December 1808) Haupttheil und Trio des dritten Satzes nicht einmal, sondern zweimal gespielt wurden, bevor der verkürzte und zum Finale überleitende Haupttheil wiederkehrte: das geht aus den vorhandenen geschriebenen Orchester-Stimmen, welche damals gebraucht wurden, hervor.

In diesen  Stimmen *) sind Haupttheil und Trio zweimal (der erste Theil des Trios jedesmal mit Wiederholungszeichen) **) vollständig ausgeschrieben.

Die Stelle, wo zur ersten Wiederholung von Anfang an übergeleitet wird, lautet in der Violoncell- und Bass-Stimme so:

Die Stelle, wo zur ersten Wiederholüng von Anfang an übergeleitet wird, lautet in der Violoncell- und Bass-Stimme so :

Später wurde die vollständige Wiederholung des Hauptheils und Trios beseitigt. Die ungültigen Stellen wurden durchstrichen oder mit Papier überklebt. Auf der Rückseite eines dieser aufgeklebten Papiere findet sich eine Stelle aus einem Arrangement der Symphonie in A-dur. Daraus ist zu entnehmen, dass die Kürzung des Satzes (in den geschriebenen Stimmen nämlich) frühestens 1812, dem Compositions-Jahre der siebenten Symphonie, vorgenommen wurde. Der Satz  erhielt damit ganz die jetzige Form. Von einem Vorkommen der eingangs erwähnten zwei überschüssigen Takte kann keine Rede sein.
Man hätte erwarten sollen, dass, als in die Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung vom Jahre 1846 (S. 462) eine Stelle aus einem Briefe eingerückt wurde, in welchem Beethoven jene zwei Takte als ungültig erklärt, ihre Ungültigkeit allgemein anerkannt worden wäre. Anders dachte Schindler; er opponirte. Es sind aber noch Andere gekommen (z. B. Marx in seinem »Beethoven«) und es werden voraussichtlich noch Andere kommen , die sich auf Schindler’s Angaben stützen und für die ausgeschossenen Takte ihre Lanze einlegen. Derentwegen greifen wir hier aus Schindler’s grösstentheils aus leeren Einwendungen bestehender Gegenschrift einige Behauptungen, die durch bisherige Erörterungen noch nicht beseitigt sind, zur Widerlegung heraus.
Schindler erzählt (Biogr., 3. Aufl., II. 339), Beethoven habe mit ihm im Jahre 1823 die C-moll-Symphonie durchgenommen und keine Bemerkung über die zwei Takte gemacht. Schindler bemerkt dabei: »Wie hätte vollends sein scharfes Auge diesen grossen Bock in der erst um jene Zeit (Anfangs der 20er Jahre) erschienenen Partitur übersehen und ungerügt lassen können? Dieser Umstand ist besonders wohl zu beachten«. Nun erschien aber die Partitur, und das ist die erste und einzige, in welcher die zwei Takte vorkommen, erst im Januar 1826***). Schindler’s Erzählung kann also nicht wahr sein.
Schindler appellirt schliesslich an die Wiener Tradition. Er beruft sich (S. 341) auf Musiker aus Beethoven’s Zeit, die im Jahre 1846 noch in Wien lebten, sagt, dass Umfrage bei ihnen gehalten und dass ein “Ergebniss”, dahin lautend, dass kein einziger der in den Concerts Spirituels thätig gewesenen Musiker einer Aenderung in den gedruckten Orchester-Stimmen sich habe erinnern können, in der “Wiener Zeitschrift 1836” bekannt gemacht sei. Wir haben ein solches “Ergebniss” in genannter »Wiener Zeitschrift« vom Jahre 1846 nicht finden können. Was aber die Wiener Tradition im Jahre 1846 anbetrifft, so lässt sich Folgendes entgegen halten. Die C-moll-Symphonie wurde am 7. und 11. November 1841 bei einem von der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien abgehaltenen Musikfest aufgeführt. Die dabei gebrauchten und eigens dafür geschriebenen Stimmen werden in zwei Päcken im Archiv genannter Gesellschaft aufbewahrt, und in diesen Stimmen stehen die zwei Takte nicht und haben auch von Anfang an nicht darin gestanden. Das sind zwei Päcke Beweise gegen Schindler. Sie beweisen, dass in Wien die zwei Takte wenigstens fünf Jahre früher als anderwärts ausgeschossen waren. Die Umfrage, welche Schindler bei den Wiener Musikern halten liess, kann also keine genaue gewesen sein. Das Ergebniss würde sonst gegen ihn ausgefallen sein.

*) Die Stimmen befinden sich im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Ebenda befinden sich auch Stimmen zu den meisten anderen Symphonien und zu anderen Werken. Ein Theil der Stimmen ist von Beethoven revidirt worden. Sämmtliche Stimmen sind geschrieben und älter, als die gedruckten. Die ganze Sammlung war in Beethoven’s Besitz und wurde bei der Versteigerung seines Nachlasses von der Gesellschaft der Musikfreunde angekauft. Im Auctions-Verzeichniss sind sie unter Nr. 190 ff. eingetragen. Einen Bericht über die Sammlung findet man in der «Deutschen Musikzeitung« vom 7. Juli 1862.
**) Wenn man die Partitur der Breitkopf und Härtel’schen Gesammt-Ausgabe zur Hand nimmt, so kann man sich nach dem 21. Takt auf Seite 46 ein Wiederholungszeichen denken, welches auf ein nach dem ersten Takte auf Seite 37 stehendes Wiederholungszeichen zurückweist.

***) Eine Anzeige von dem bevorstehenden Erscheinen der Partitur findet man im Intelligenzblatt zur Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung vom December 1825. Als erschienen wird sie in dem Blatte vom Januar 1826 angezeigt.

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